In diesem Moment ging die Tür auf und ein hagerer Mann trat heraus. Er trug einen sichtlich teuren eisgrauen Anzug und die in einem dezenten hellen Rot gehaltene Krawatte saß millimetergenau dort, wo sie hingehörte. Er sah aus wie aus dem Ei gepellt, fand Zita. Oscar Ihlo stellte sich knapp vor, bat sie einzutreten und bot ihnen Sitzplätze vor seinem Schreibtisch an. All das spulte er pflichtschuldig ab, aber es schien ihm nicht einzufallen, dass er sich entschuldigen könnte, weil er sie so lange im Vorraum hatte warten lassen.
Seine Freundlichkeit war gezwungen, und die Kühle, die er verströmte, konnte man bestenfalls als ausgeprägtes Selbstbewusstsein deuten. In seinem länglichen, knochigen Gesicht entdeckte Zita einen herrischen Zug, der noch unterstrichen wurde durch einen extremen Kurzhaarschnitt, der bei jedem US-Drillsergeant auf knurrige Zustimmung gestoßen wäre.
Sie löste sich von seinem Gesicht und wendete ihren Blick der Aussicht zu, die die Fensterfront rechter Hand auf die im Tal liegende Stadt bot, während Daimler Oscar Ihlo den Grund für ihren Besuch erklärte und klarstellte, dass sie keineswegs aus privaten Gründen hier waren, sondern auf Wunsch von Agnes Lokinger versuchten, Informationen über den aktuellen Aufenthaltsort ihres Sohnes Remo zu sammeln.
Ihlo hob bedauernd die Schultern. Es tue ihm leid, dass er ihnen in dieser Angelegenheit beim besten Willen nicht weiterhelfen könne. In der täglichen Arbeit im Unternehmen sei es kaum einmal zu Überschneidungen seiner Aufgaben mit den Tätigkeiten von Remo Lokinger gekommen, den seine Geschwister, soweit er wisse, mit Charity-Aufgaben betraut hatten. Aus Gründen, die er nicht kenne, vermutlich aber, weil er erst seit relativ kurzer Zeit in die Unternehmensaktivitäten eingebunden sei, habe die Familie den jüngeren Bruder bis auf Weiteres noch nicht für eine Funktion auf der höheren Führungsebene von Lokinger-Textilien eingeplant. Und privat, um das abschließend zu sagen, pflege er keine Kontakte zur Familie Lokinger. Meist konzentriere er sich ohnehin voll und ganz auf seine beruflichen Aufgaben, sagte Oscar Ihlo und machte Miene sich zu erheben.
Um uns schnurstracks wieder hinauszukomplimentieren, dachte Zita. Schnell sagte sie: „So wie es aussieht, haben Sie hier die Zügel in der Hand.“
Ihlo lächelte schmal und ließ sich wieder in seinen voluminösen Stuhl zurücksinken. „In der Praxis bin ich es, der das operative Geschäft leitet. Warum?“
„Reine Neugier. Wir hatten vorhin ein paar Sekunden Muße, die Fotos, die dieses überwältigende Gebäude zieren, zu bewundern. So wie es aussieht, produzieren Sie ja auch Kleidung in Bangladesch. Zahlen Sie dort eigentlich faire Löhne? Entschuldigen Sie die direkte Frage, aber man hört ja so manches.“
Ihlo musterte sie mit durchdringendem Blick. „Falsch, Frau Gehring. Wir produzieren dort nicht. Wir lassen produzieren. So wie fast alle unsere Mitbewerber übrigens auch. Das heißt im Klartext: Wir besitzen keine Fabriken in Bangladesch oder sonstwo, wir vergeben über unsere Geschäftspartner lediglich Aufträge. Die Produktionsanlagen gehören den dortigen Fabrikbesitzern, und deswegen können wir in diesen Ländern auch keine Löhne festsetzen. Die Löhne werden zwischen den Unternehmern und den Arbeitern ausgehandelt.“
„Hungerlöhne, nach allem, was man so liest.“ Zita hielt Ihlos Blick stand.
„Ach, wissen Sie, man liest so viel, weil so viel geschrieben wird, aber eine ganze Menge davon ist Unsinn, entspringt einer ganz und gar einseitigen, ideologisch befrachteten Betrachtungsweise.“
Sein Tonfall ließ darauf schließen, dass er sich dazu entschieden hatte, sich nicht von Zita provozieren zu lassen.
„Sicherlich ist ein großer Teil der Branche in Bangladesch gelandet, weil die Löhne dort nicht sonderlich hoch sind. Alle müssen in diesem umkämpften Geschäft schließlich darauf achten, dass die Kosten möglichst niedrig gehalten werden. Und für einen mittelgroßen Player wie uns ist das besonders wichtig. Wenn wir die Kosten nicht unten halten, können wir mit den Großen in diesem Business, deren Stückzahlen unsere bei Weitem übertreffen, nicht konkurrieren. So einfach ist das.“
Ihlo lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
„Und bevor Sie fragen: Ja, ich bin gut darin, Kosten zu sparen. Deswegen bin ich hier. Aber darauf will ich gar nicht herumreiten. Es geht auch darum: Die Frauen in Bangladesch arbeiten nicht nur zu günstigen Konditionen, sie arbeiten auch schnell und genau. Das ist viel wert, das finden Sie so nicht überall.“
So kann man`s natürlich auch hindrehen, dachte Zita. Sie erinnerte sich, was sie in Sibylle Reinhardts Buch über die Textilindustrie in Bangladesch gelesen hatte. Dass viele Frauen dort aufgrund der überkommenen Traditionen besonders willfährig sind, dass sie sich aufgrund der patriarchalischen Erziehung im Land schnell unterordnen und sich nicht getrauen, sich den männlichen Vorgesetzten entgegenzustellen, dass sie sich kaum gegen ihre Ausbeutung wehren und leicht an die Kandare zu nehmen sind. Ob Oscar Ihlo schon einmal darüber nachgedacht hatte, wie würdelos mit den Frauen in den Fabriken offenbar umgegangen wurde?
„Und die eigentliche Wahrheit wird sowieso fast nie beleuchtet“, fuhr der Manager fort. „Die Menschen dort unten wollen für uns arbeiten. Gäbe es die Textilindustrie nicht, dann wäre Bangladesch einfach nur das am dichtesten besiedelte Land der Welt, armselig und perspektivlos. Wir geben den Menschen etwas zu tun, erst durch unsere Aufträge haben sie Lohn und Brot. Wir zwingen ja niemanden dazu, in den Textilfabriken in Dhaka oder Chittagong zu arbeiten. Die Leute kommen freiwillig. Und wissen Sie auch warum?“ Mit triumphierendem Unterton trieb er seine Argumentation voran. „Ich sage es Ihnen. Weil die Bedingungen des bäuerlichen Lebens auf dem Land noch viel härter sind als die Arbeit in den Fabriken. Deshalb wächst Dhaka wie Unkraut. Also, ich sehe das ganze Thema nicht so negativ, wie es immer dargestellt wird.“
Zita ärgerte sich über diese Pontius-Pilatus-Attitüde. Klar, wenn die Menschen ohnehin schon mal da waren und nichts Besseres zu tun hatten, dann konnte man sie ruhig auch ausbeuten und ihnen die Gnade zuteilwerden lassen, sie an Nähmaschinen zu fesseln. Krampfhaft suchte sie in ihrem Kopf nach der Zahl, die sie gestern in „Grabgesang für den Globalkapitalismus“ gelesen hatte, doch es waren viele Zahlen gewesen. Sie schaute zu Daimler hinüber, aber der war im Moment keine große Hilfe. Sein Blick fragte vielmehr: Was zum Geier hast du hier eigentlich vor?
„Sie wissen sicher, dass im Schnitt vom Preis eines T-Shirts gerade mal 2,6 Prozent an die Näherin in Bangladesch gehen, die es gefertigt hat“, presste sie hervor, obwohl ihr schwante, dass es besser wäre, sich zurückzuhalten. „Aber natürlich müssen Sie diese Ausbeutung vertuschen. Deshalb hängen Sie auch diese ganzen schönen Bildchen hier an die Wände.“
„Ich muss gar nichts – außer erfolgreich dieses Unternehmen führen“, sagte Ihlo und stand auf. „Aber wenn Sie`s unbedingt wissen wollen: Ich müsste sofort völlig zurecht entlassen werden, wenn ich es zuließe, dass unsere Produkte mit verschmutzten Flüssen, stickigen Fabrikhöhlen, vergitterten Fenstern und erschöpften Frauen in Verbindung gebracht werden. Mein Job ist es, positive Assoziationen zu wecken: Lebensfreude, Leichtigkeit, Individualität. Wir wollen Kleidung verkaufen. Wir wollen, dass die Menschen Spaß haben beim Shopping, dass sie sich keine Grenzen setzen müssen. Deshalb habe ich Fast Fashion für Lokinger entdeckt, deshalb habe ich die Produktion nach Bangladesch verlagert. Wenn ich das nicht getan hätte, gäbe es das Unternehmen heute nicht mehr.“ Ihlo schien noch ein paar Zentimeter gewachsen zu sein. Die Rolle des Retters gefiel ihm ganz offensichtlich.
„So sehen Sie das also“, sagte Zita.
„Genau, so sehe ich das. Und an diesem Punkt muss ich jetzt auch weiterarbeiten“, sagte der Manager und legte seine Hand auf die Türklinke. „Ich verstehe sowieso nicht, was das alles mit Remo Lokinger zu tun hat.“
Das heißt, du verstehst nicht, wieso wir nicht fähig sind, unsere Arbeit zu machen und stattdessen dir auf die Nerven fallen, dachte Zita. So richtig wusste sie tatsächlich selbst nicht, was sie sich eigentlich von dieser Unterhaltung erhofft hatten.
„Es ist nur, weil wir gehört haben, dass er offenbar nicht ganz einverstanden war mit der, ähm… Unternehmenspolitik“, ließ sich Daimler vernehmen.
„Tatsächlich“, meinte Ihlo in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass ihm das komplett sonstwo vorbei ging. „Das werde ich in Zukunft berücksichtigen, versprochen.“