Peter Schwendele

Autor

Neo-Samurai

Das grün-orange Muster verschwamm vor meinen Augen, so nah hielt mir Kerscher die beiden Teile der Krawatte vors Gesicht. Ich lehnte mich nach hinten, um Abstand zu gewinnen. Kerscher verströmte nicht gerade Rosenduft. Hatte er so früh am Tag schon getrunken?
Er führte mit ernsthafter Miene das spitz zulaufende Stück Stoff, das gerade noch das Ausmaß seiner Handfläche haben mochte, mit dem anderen Teil seines Schlipses zusammen, dessen langes Ende mit der verdrehten Schlinge wie eine Hundeleine nach unten hing. Dann zog er die Textilfetzen wieder auseinander.
„Siehst du den Schnitt, siehst du ihn?“, fragte er keuchend.
Was sollte ich sagen? Ich sah eine kaputte Krawatte, mehr nicht.
Kerschers Auftritt am frühen Morgen hätte mir gleich zu denken geben sollen. Hätte ich sofort etwas unternommen, wäre mir der Anblick der Albinospinne erspart geblieben, und alles, was danach kam, auch die Alpträume, in denen Dutzende der glatten, kalten Biester auf mich zukriechen.
Aber ich hatte Arbeit bis zur Halskrause, mein Terminkalender war proppenvoll. Genervt blickte ich auf die Uhr und schüttelte einfach nur den Kopf.
„Eben“, triumphierte Kerscher, „man sieht mit bloßem Auge nicht das Geringste, der Schnitt ist perfekt. Es war ein echtes Katana, eines der schärfsten Samurai-Schwerter, die ich je gesehen habe.“
Kerscher begann in meinem Büro auf und ab zu tigern. Die fieberhafte Art, in der er seinen Bericht abspulte, legte nahe, dass es um Leben und Tod gegangen war. Dabei war er auf dem Weg zur Arbeit lediglich auf einen Straßenkünstler getroffen, der wie ein Samurai gekleidet gewesen war, mit einer prächtigen Rüstung und mit einem Schwert, das er mit kraftvollen und doch anmutigen Bewegungen durch die Münchner Morgenluft kreisen ließ, wenn man Kerscher glauben wollte. Der Schweiß auf seiner Stirn glänzte, als er mir die Szene beschrieb.
„Und du glaubst also, das war ein echter Samurai?“ Natürlich nahm er den milden Spott meiner Frage nicht wahr.
„Das nun nicht“, meinte er bedauernd, „aber es war ein Japaner, und er wusste, wie man mit dem Katana umgeht, so viel steht fest.“ Verzückt hob er die beiden Schlipsteile wieder in die Höhe. Im Achselbereich seines Hemdes zeichneten sich dunkle Flecken ab. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ihm diese morgendliche Begegnung besonders gut getan hatte.
Wie um meine Ahnung zu bestätigen, blickte er mich plötzlich durchdringend an.
„Es wird Zeit, dass wir Burkert drankriegen“, raunte er in meine Richtung, „wenn der eine Katanaklinge am Hals hätte, würde er bestimmt alles zugeben.“
Burkert und seine angeblichen Machenschaften zu seinem eigenen Vorteil und zum Nachteil der Firma waren Kerschers zweites Lieblingsthema, gleich nach dem ganzen Nippon-Kram. Dabei machte Burkert lediglich lukrativere Abschlüsse als es Kerscher je gelungen war.
„Claus, jetzt komm mal wieder runter. Burkert macht nur seinen Job, eben auf seine Weise.“
„Ha!“ Er spuckte mir die Silbe vor die Füße. „Heißt das, du willst dich jetzt auch noch gegen mich stellen? Hör zu, ich will, dass du endlich mit Gandolfinger redest, über diese Kanaille. Sofort! Sonst werde ich es selbst tun.“
Bevor ich ihm sagen konnte, dass er besser aufhören sollte, mir zu drohen, weil er sonst bald gar keine Freunde mehr in diesem Laden haben würde, war er schon wutentbrannt aus meinem Büro gestürmt.

Es war nicht so, dass ich nicht schon mit Gandolfinger, der ganz oben im 17. Stock residierte, geredet hätte. Allerdings nicht über Burkert. Wir hatten über Kerscher selbst geredet, und ich hatte Gandolfinger mit viel Mühe dazu bringen können, ihn noch nicht zu feuern. Dabei war er spätestens seit seiner letzten Geschäftsreise nach Osaka eigentlich nicht mehr tragbar. Ich bereute es inzwischen bitter, dass ich Kerscher in die Firma geholt hatte, doch er betrachtete unsere alte Studienfreundschaft als unverbrüchlich.
„Bringen Sie den Kerscher wieder auf Kurs“, hatte Gandolfinger gesagt, „sonst fliegt er.“ Und du gleich hinterher, schien sein Blick zu sagen. Gandolfinger konnte ziemlich ungemütlich werden, dabei sah er aus wie ein tapsiger Bär mit seinen riesigen Pranken und seinem kugelrunden Bauch, über dem meistens eine geschmacklose Krawatte lag, bedruckt mit Hirschen, Golfspielern oder dampfenden Kaffeetassen.

Konnte man Kerscher wieder auf Kurs bringen? Seit seiner Rückkehr aus Osaka hatte ich extreme Zweifel. Er laberte mir mehr als einmal die Ohren voll, wie bewundernswert die japanische Wirtschaftsethik sei.
„Hier im Westen denken immer alle, den Japanern geht es nur um den Profit. Von wegen. Die neue Wirtschaftselite, die hat Charakter, hat Stil. Wusstest du, dass sie sich selbst insgeheim als Neo-Samurai bezeichnen?“, fragte er mich, als wir nach einem langen Arbeitstag noch auf einen Schluck zusammensaßen. Gerade in Osaka würden Geschäftsabschlüsse neuerdings geradezu zelebriert, wusste Kerscher zu berichten. Partnerschaften besiegle und bekräftige man immer öfter mit einem Ritual, das die heutige Businesswelt mit der japanischen Tradition verbinde. Man begebe sich für einen Moment praktisch völlig in die Gewalt seines Partners – ein Akt tiefsten Vertrauens.
Ich wollte das Ganze eigentlich nicht wissen, aber Kerscher erklärte es mir genau: Der eine Geschäftsmann nimmt das Ende der Krawatte, die er um den Hals trägt, und spannt das Textilteil wie ein Seil von seinem Kopf zu seiner Hand. Der häufig bereits von Sake beseelte Partner schwingt ein Katana, wie ein Samurai, mit beiden Händen, und trennt den Schlips mit einem kraftvollen Hieb in zwei Teile. Dann wird gewechselt, und die abgetrennten Textilien nagelt man schließlich, als sichtbares Zeichen der Partnerschaft, schräg überlappend an die Bürowand.
„Natürlich klappt das nicht immer reibungslos“, ließ mich Kerscher wissen. „Bisweilen ist der ein oder andere mit der Katana-Handhabung überfordert; auch der Sake lässt die Zielgenauigkeit leiden. Die Japaner vertragen ja nichts. Da kommt es schon mal vor, dass eine Hand oder ein Arm in Mitleidenschaft gezogen wird.“ Doch nur selten werde gleich die ganze Hand abgetrennt, beruhigte er mich.
Er selbst war aus Osaka mit einer hässlichen Wunde am Handgelenk zurückgekehrt. Einen Deal hatte er allerdings nicht mit im Gepäck gehabt.

Der Arbeitstag verlief horrormäßig. Ich kam kaum zum Luftholen, vergaß Kerscher und seine Spleens. Doch als ich am späten Abend aus dem Büro wanken wollte, fiel mein Blick auf die Krawattenteile, die er am Morgen bei mir zurückgelassen hatte. Ich nahm sie in die Hand. Von wegen glatter Schnitt, von wegen japanische Schwertkunst. Der Stoff war, wenn man genau hinsah, an den Schnittstellen ausgefranst. Ich seufzte. Was Kerscher sich mittlerweile zusammenphantasierte, konnte man wirklich nicht mehr ernst nehmen. Ich ging rüber in sein Büro, weil ich mich fragte, was er den ganzen Tag über getrieben haben mochte. Er war nicht da. Dafür stapelten sich in dem Raum für meinen Geschmack deutlich zu viele leere Sushi-Boxen. Arbeitete Kerscher überhaupt noch? Oder hatte er sich endgültig seinen Samuraiträumen und seinen Verschwörungstheorien hingegeben? Jedenfalls stimmte hier irgendetwas nicht. Etwas war anders als bisher. Aber übermüdet wie ich war, registrierte mein Gehirn nicht, was meine Augen sahen.
Zuhause lieh ich mir in der Online-Videothek „Die sieben Samurai“ aus, doch bereits nach einer Stunde war ich eingeschlafen. Am frühen Morgen schreckte ich hoch, aus einem wirren Schwertertraum, und schlagartig war mir klar, was mir gestern in Kerschers Büro hätte auffallen müssen: Das Samurai-Schwert, das seit seiner Rückkehr aus Osaka an der Wand hinter seinem Schreibtisch hing, war nicht mehr da gewesen.
Während ich ins Büro raste, konnte ich kaum einen klaren Gedanken fassen. Dennoch rief ich Gandolfinger an, um ihm meine Befürchtungen mitzuteilen, auf der privaten Leitung. Er ging nicht ran.
Ich war unglaublich erleichtert, als ich in Burkerts Büro platzte und ihn wohlbehalten am Schreibtisch sitzen sah.
„Geht`s Ihnen gut, alles klar?“, fragte ich und holte ein paar Mal tief Luft.
Burkert sah mich verwirrt an. „Ja, wieso? Ich bin nur etwas übermüdet. Irgend so ein Idiot hat gestern Abend ständig bei mir angerufen. Richtiger Telefonterror. Da habe ich beschlossen, bei meiner Freundin zu übernachten.“ Er grinste.

Ich nickte nur und taumelte zu meinem Büro. Sollte ich trotzdem die Polizei verständigen? Mir war nicht wohl, wenn ich an Kerscher dachte. Unschlüssig trat ich ein und prallte zurück.
Da war sie! Mitten auf meinem Schreibtisch.
Von weitem sah sie aus wie ein fahles, blutleeres Krabbelwesen, wie eine Albinospinne, eine mit nur fünf Beinen, verkrüppelt, aber scheinbar bereit, jederzeit blitzschnell loszurennen. Das Schrecklichste war das, was der Kopf hätte sein können, eine unruhige, schartige Fläche, in der tausend Augen zu kleben schienen, die mich starr musterten, wie eine stumme Anklage. Ich wollte nicht näher gehen, doch ich tat es trotzdem, und sah, dass sie auf einem Nest gebettet wartete, auf einem länglichen, zusammengerafften Stück Stoff, das unverseh
rt war, abgesehen von Spritzern einer dunklen Flüssigkeit, zwischen denen Golfspieler ihre Schläger schwangen.  

(Veröffentlicht in der Literaturzeitschrift "DUM", Nr. 80, 2016)